Es ist Sommer 1992. Meine Oma steht in der Küche und kocht das Mittagessen. Ich bin mit meinem Opa im Keller, wir suchen die Schaukel, um sie gleich an einen dicken Ast zu hängen. Ich habe eine kurze Hose an und meine Haare sind vom Toben im Garten durcheinander. Nasse Strähnen kleben mir im Gesicht. Ich bin fünf Jahre alt. Ich fühle mich wohl und behütet in der Gegenwart meines Opas. Wir haben die Schaukel gefunden. Ich renne raus. Draußen knallt mir die warme Sonne in mein Gesicht. Ich spüre die Hitze des Sommers. Es riecht nach Abgasen und Teer. Mich stört es nicht. Ich atme den Geruch tief ein. Er weckt noch heute angenehme Erinnerungen in mir. Ich wische mir meinen Pony aus dem Gesicht und laufe stolz hinter meinem Opa her, der die Schaukel in der Hand trägt. Die Nachbarskinder kommen raus gerannt. Sie wollen auch schaukeln. Wir überqueren die Straße. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein Wald mit einer Lichtung. An warmen Sommerabenden saßen wir dort schon oft am Lagerfeuer, redeten und lachten stundenlang .Wir stehen jetzt vor einem Baum. Ich schaue Opa zu, wie er das Seil der Schaukel um einen schweren Stein bindet . Mit einer kurzen, schwungvollen Bewegung wirft er den Stein hoch in die Luft. So hoch, dass ich das Gefühl habe, der Stein würde in den endlosen Sphären des Universums verschwinden. Der Stein windet sich zügig um den Ast. Die Schaukel hängt. Ich hüpfe vor Freude und bin stolz auf meinen Opa. Nur mein Opa kann das. Mein Opa ist der Beste. Ich setze mich auf die Schaukel und mein Opa schaukelt mich an. Die heiße Sommerluft fühlt sich beim Schaukeln plötzlich angenehm kühl auf meiner Haut an. Der Wind weht mir durch mein Haar. Ich schließe die Augen. Kindheit. Ich höre meine Oma rufen. Ich öffne die Augen. Meine Oma winkt uns aus dem Wohnzimmerfenster. Sie ruft uns zum Essen. Ich tue so, als hätte ich sie nicht gesehen und gehört. Nur nicht aufhören zu schaukeln. Meine Oma ruft immer noch. Mein Opa hält die Schaukel an. Verspricht mir aber, nach dem Mittagessen eine Fahrradtour zu machen. Es gibt Kartoffeln mit Fleisch. Meine ältere Schwester sitzt schon im Garten am Tisch. Auch die Nachbarskinder kommen dazu. Sie sind arm. Haben kein Geld. Ich bin zu jung, um zu begreifen, was das bedeutet. Auch dafür um zu begreifen, dass ihr Vater den ganzen Tag trinkt und der Hund besseres Essen bekommt , als die Kinder. Die Sonne steht nun nicht mehr so hoch am Himmel. Die Schatten werden länger. Ich schlinge das Essen hinunter. In Gedanken bin ich bei der Fahrradtour.
Mein Opa hält sein Versprechen. Während wir essen, holt er die Fahrräder aus dem Keller. Fertig mit Essen. Wir packen Decken und Kescher, um Schmetterlinge zu fangen, ein und fahren die lange Straße am Waldrand entlang. Meine Schwester ist auch dabei. Wir fahren an einem Baum vorbei in dem eine Eule sitzt, bis zu einer Gabelung. An der Gabelung fahren wir rechts. Noch ein bisschen und wir sind an der Goldgrube. So nennt Opa einige große aufeinandergelegte Steine auf einem Hügel. Ich glaube ihm. Manchmal, wenn wir an der Goldgrube sind, steigen wir von unseren Fahrrädern ab und suchen dort nach Gold. Wir haben nie was gefunden. Das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist die Zeit.
Heute, 20 Jahre später, hat mein Opa Probleme beim Aufstehen. Seine Knochen tun weh. Der Garten, in dem ich früher geschaukelt habe, ist zugewachsen. Die Kirsch -und Apfelbäume sieht man kaum. Die Eule ist auch nicht mehr da und die Goldgrube erscheint mir viel kleiner als in meiner Erinnerung.
Die Zeit verändert sich, und ich habe begonnen, sie zu fotografieren – diese sich wandelnde Zeit, die verrinnt, ohne dass man etwas machen kann, ohne dass man sie beeinflussen oder bestechen kann, oder sie anflehen, sie möge langsamer vergehen.
Draußen ist es dunkel. Die Bäume, die ich aus dem Wohnzimmerfenster meiner Großeltern sehe, wirken fast bedrohlich. Dennoch habe ich keine Angst. Mein Opa ist da. Er würde mich beschützen.
Es ist Sommer 1996. Ich trage ein Nachthemd von meiner Oma. Das Nachthemd ist viel zu groß, es ist rosa und mit Rüschen. Es riecht nach meiner Oma, es riecht nach etwas Vertrautem, es riecht nach etwas, was ich sehr mag. Meine Oma macht das Abendbrot fertig. Meine Schwester ist im Badezimmer und badet. Sie muss pfeifen, damit meine Oma weiß, dass ihr nichts passiert ist. Ich trinke meinen Tee und esse ein Butterbrot. Danach lege ich mich auf das ausklappbare Sofa. Ich weiß, dass mein Opa gleich nochmal in das Zimmer kommen wird und kurz durchlüftet. Er sagt, dass frische Luft alle Krankheiten fernhält. Ich höre das Ticken der Uhr. Mein Opa kommt pfeifend ins Zimmer. Ich habe meinen Opa nie böse oder schlecht gelaunt erlebt. Mein Opa schüttelt meine Decke nochmal durch und deckt mich zu, dann legt er mir noch ein weiteres Kissen unter den Kopf und geht zum Fenster, öffnet es und schaut raus auf die Straße. Nach einigen Augenblicken schließt er es wieder. Er wünscht mir eine gute Nacht. Es ist nie richtig dunkel in dem Zimmer, ich höre wieder das Ticken der Uhr. Ich schlafe ein.